Der Duft von roten Reisblüten

für Violoncello und Klavier (2023)

15’

Information

Volkslieder aus aller Welt sind ein faszinierendes Zeugnis der menschlichen Freude am Gesang jenseits aller künstlerischen (und künstlichen) Diskurse und Überformungen. In ihrer Kürze und technischen Schlichtheit sind sie auf das Wesentliche reduziert und lassen gleichzeitig Raum für neue Kreativität, die wie Ranken um diese Melodien wächst. Diese Sammlung von Volksliedern ist die Fortsetzung des ersten Zyklus “Wie der Apfel, der aus dem Zweig sprießt”. Hier wie dort habe ich die Bearbeitungen der Lieder ganz bewusst ohne Kenntnis ihrer Herkunft oder ihres Textes vorgenommen, ich habe die Melodien nur in anonymisierter Form erhalten. Dadurch war ich gezwungen, mich auf die musikalische Intuition zu verlassen, um mit dem - und manchmal auch gegen den - Charakter der Lieder zu arbeiten. Diese Bearbeitungen sind somit also weniger Vertonungen eines Textes als mehr persönliche musikalische Kommentare. Sie zeigen auf, in welche Richtung sich eine Melodie entwickeln könnte, wie sie in einem anderen Licht erscheinen kann und welches Potential ich als Komponist in ihr sehe. Insgesamt entfernen sich die Bearbeitungen in diesem Zyklus noch weiter von den Melodien. Hatte sich das Soloinstrument (Klarinette) im ersten Zyklus weitgehend auf das Spielen der Liedmelodien beschränkt, nehmen in diesem Werk die hinzukomponierten Teile einen deutlichen größeren Raum ein und das Cello interagiert stärker mit dem Klavier. Die Volksliedmelodien sind nun eher ein kleiner Teil der insgesamt sechs Sätze und nicht immer sofort als solche zu erkennen. Die hinzukomponierte Musik erwächst dennoch immer aus Charakteristiken, die ich aus den Melodien erspürt habe. Jeder Satz dieses Stückes wendet auch hier andere, neue klanglich-motivische Ideen an wie z.B. Tonrepetitionen, Bitonalität, rhythmische Verschiebungen, Resonanzklänge, Kanons und vieles mehr. Die Auswahl der Herkunftskulturen folgte hier keinem besonderen Muster und richtete sich nach musikalischem Interesse, daher mischen sich bekanntere und obskurere Beiträge gleichermaßen.

Folk songs from all over the world are a fascinating testimony to the human joy of singing beyond all artistic (and artificial) discourses. In their brevity and technical simplicity they are reduced to the essentials and at the same time leave room for new creativity, which grows like tendrils around these melodies. This collection of folk songs is the continuation of the first cycle "Wie der Apfel, der aus dem Zweig sprießt". Here, as there, I have deliberately made the arrangements of the songs without any knowledge of their origin or their text; I have received the melodies only in anonymous form. This forced me to rely on musical intuition to work with - and sometimes against - the character of the songs. These arrangements are thus less settings of a text than more personal musical commentaries. They point to the direction in which a melody might develop, how it might appear in a different light, and what potential I see in it as a composer. Overall, the arrangements in this cycle move even further away from the melodies. The additionally composed parts take up a considerably larger space and the cello interacts more strongly with the piano. The folk song melodies are now rather a small part of the total of six movements and not always immediately recognizable as such. The added music nevertheless always grows out of characteristics I sensed from the melodies. Each movement of this piece also applies different timbral and motif-centered ideas such as repetitions, bitonality, rhythmic shifts, resonant sounds, canons, and much more. The selection of cultures of origin here did not follow any particular pattern and was based on musical interest, so more familiar and more obscure contributions are mixed.

I. Keel Row

Englisch-schottisches Volkslied aus der Region Newcastle/Tynside, das vom Leben der Bootsarbeiter handelt, die im 18. und 19. Jahrhundert Kohle über den Fluss Tyne transportierten und eine für die Region wichtige Tradition begründeten. Die genauen Ursprünge der Melodie sind nicht ganz eindeutig. Die Strophen mit ihren mehrfachen Textwiederholungen zeigen die typische Funktion solcher Arbeiterlieder zum Halten eines gemeinsamen Rhythmus bei der Arbeit auf.

II. Vänner och fränder

Ein traditionelles schwedisches Lied: “Freunde und Verwandte trafen sich zu beraten, um die Jungfrau dieses Jahr zu verheiraten” beginnt der Text und handelt von den Hochzeitsvorbereitungen des Königssohns mit einer Jungfrau. Diese aber verweigert sich in der Hochzeitsnacht dem Prinzen und folgt stattdessen einem armen Matrosen auf sein Schiff:

“Und die Jungfrau lag an des armen Rolands Seite
Sie fühlte keine Sorgen und keine Angst
Blühende Jugend
An des armen Rolands Seite
Sie fühlt keine Sorgen und keine Angst”

III. Jojk

Der Joik oder Jojk ist ein mit dem Jodeln verwandter, eintöniger Kehlkopfgesang der Samen (Ureinwohner Lapplands), bei dem die Musik wichtiger ist als die Worte. Die Samen besingen damit Menschen, Tiere und Naturphänomene. Der Joik ist traditionell ein integraler Bestandteil ihrer Kultur, der weniger der Unterhaltung als vielmehr der Möglichkeit dient, sich dem Besungenen näher zu fühlen. Der Joik wird von Männern wie Frauen gepflegt und enthält gesungenen Text oder bedeutungslose Silben. Er war früher die einzige traditionelle Musikform der Samen und bestand aus einem Sologesang ohne instrumentale Begleitung.

IV. Lied vom Berg Yimeng

Chinesisches Volkslied, das die Schönheit des Berges Yimeng 沂蒙山 in der Provinz Shandong besingt:

”Jeder sagt, dass der Berg Yimeng gut ist
Die schöne Landschaft auf dem Berg in Yimeng
Wie schön ist das grüne Wasser in Qingshan
Der Wind bläst das Gras und sieht die Rinder und Schafe
Der Duft von roten Reisblüten in Sorghum
Tausende Tonnen dieser Hirse stapelten sich im Lager
Die Führung unserer Kommunistischen Partei ist gut
Die Menschen am Berg Yimeng strahlen
Jeder sagt, dass der Berg Yimeng gut ist
Die schöne Landschaft auf dem Berg in Yimeng”

V. Ankanim Araji Qo

Ein “Sharakan”, ein liturgischer Hymnus aus Armenien, der wie viele andere seit Jahrhunderten bei religiösen Ritualen verwendet wird und zum fünften Sonntag der christlichen Fastenzeit gesungen wird. Er ist den im deutschprachigen Raum überlieferten gregorianischen Gesängen nah verwandt. Seine Übersetzung lautet “Sei gnädig”.

VI. Schottischer Tanz

Dieses Lied stammt von dem englischen Komponisten William Brade, der es 1617 in einer Sammlung von Tänzen veröffentlicht hat. Brade war auch Gambenvirtuose und vor allem im norddeutschen Raum tätig. Die Vorlage für dieses Lied stammt von dem Alte-Musik-Ensemble Hespèrion XXI, dass der spanische Musikwissenschaftliche Jordi Savall gegründet hat. Ob William Brade diesen Tanz komponiert oder nur bearbeitet hat, ist nicht bekannt.